Mainz/Bingen (sm)- Nach dem Mauerfall am 9. November 1990 ging alles sehr schnell: Runde Tische, Stasi-Unterlagen, Zwei-plus-Vier-Gespräche und Einheitsvertrag sind die großen Stichworte jener Zeit. Auch im Kleinen nahm das Zusammenwachsen Formen an: Mainz-Binger Gemeinden und der Kreis schlossen Freundschaften mit Kommunen der damaligen DDR.
Der Landkreis Mainz-Bingen schloss eine Partnerschaftsvereinbarung mit dem Landkreis Erfurt. Und auch einige Gemeinden aus Mainz-Bingen schlossen Freundschaften mit Kommunen in der damals noch bestehenden DDR. Zum Beispiel Ober-Olm und Schloßvippach. Eine Partnerschaft, die bis heute besteht und auch viele private Freundschaften mit sich brachte – zum Beispiel die der Familien Bielesch und Vieten, deren Geschichte unten beschrieben wird.
Auf Partnerschaftsfeier folgte intensive Aufbauhilfe im Kreis Erfurt
Fast wäre die Zeremonie kurz vor Unterzeichnung der Partnerschaftsurkunde vorbei gewesen: Andreas Tuch, im Oktober 1990 Landrat des Landkreises Erfurt, wollte die gemeinsame Sitzung der Kreistage aus Erfurt und Mainz-Bingen gerade abbrechen, den Festakt ohne Höhepunkt beenden. Da riss er doch noch die Tür des historischen Sitzungssaals des Erfurter Barockgebäudes auf: Gerulf Herzog stand der Stress der vergangenen Stunden noch im Gesicht, aber im Saal machte sich Erleichterung breit. Schließlich hatte der Landrat die entscheidende Urkunde unter dem Arm – die Partnerschaftsvereinbarung zwischen seinem Landkreis Mainz-Bingen und dem Landkreis Erfurt. Der feierliche Akt zur Unterzeichnung konnte weitergehen.
Landrat stand im Stau
Ein Zeitungsartikel von damals offenbarte auch den Grund für Herzogs Verspätung: Stau! Denn während die Kreistagsmitglieder aus Mainz-Bingen am Morgen mit dem Bus angereist waren, kam Herzog mit dem Auto nach und wurde von den Folgen eines Unfalls auf der Autobahn gebremst – aber eben nicht gestoppt. Über Schleichwege bahnte er sich durch halb Thüringen einen Weg nach Erfurt, während im Festsaal schon die Reden gehalten wurden.
Für Mainz-Bingen sprach Herzogs Stellvertreter, der Erste Kreisdeputierte Rolf Drewes, der sich ein „Volk der guten Nachbarn“ wünschte und Hilfe im Aufbau der Verwaltung anbot. Ein Angebot, dass Claus Schick, damaliger Fraktionschef der SPD und später Landrat von Mainz-Bingen, im Namen des Kreistages bekräftigte. Dieses Angebot wurde in den darauffolgenden Jahren mit Leben erfüllt, viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisteten in der Verwaltung Aufbauhilfe, waren im Austausch vor Ort, gaben an den Wochenenden Seminare, schulten in Kommunalrecht und Finanzen, halfen bei der Bewertung der Stellen.
Heute existiert die Partnerschaft nicht mehr, schon alleine deshalb, weil der Landkreis nicht mehr existiert: 1994 gab es in Thüringen eine Verwaltungsreform. Die Gebietskörperschaften sollten größer werden. Die Orte des Kreises Erfurt wurden zum Teil in die Landeshauptstadt eingegliedert, der übrige Teil ging in die Landkreise Sömmerda, Gotha, Ilm-Kreis und Weimarer-Land auf.
Bei Bieleschs aus Schloßvippach und Vietens aus Ober-Olm hat es sofort gefunkt
Als die Nachricht über die Maueröffnung am 9. November 1989 über den Äther ging, war für Maritta und Erhard Bielesch klar: Ab ins Auto und auf nach Düsseldorf. Endlich die West-Verwandtschaft einmal zu Hause besuchen. Zuvor hatten sich die Tanten, Onkel, Nichten und Cousinen immer nur in Schloßvippach in der damaligen DDR getroffen. Einmal im Jahr. Aber jetzt hatte das Paar die Gelegenheit zum Gegenbesuch sofort beim Schopfe gepackt. „Wir wussten ja nicht, wie lange die Grenze offen bleibt.“ Die Fahrt nach Düsseldorf dauerte lange. 12 Stunden waren die Bieleschs am Ende unterwegs: „Wir hatten keine Karten vom Westen und wussten gar nicht, wo wir hinmussten“, sagt sie und lacht. Der Besuch ist Maritta Bielesch noch in guter Erinnerung: „Das war Gänsehaut pur, eine völlig andere Welt für uns.“